Täuschende Schönheiten
Forschungsbericht (importiert) 2010 - Max-Planck-Institut für chemische Ökologie
Einleitung
Beziehungen zwischen Insekten und Pflanzen werden gern als Paradebeispiel für Mutualismus, also gegenseitigen Nutzen, betrachtet: Blüten werden durch das Insekt bestäubt, und der Bestäuber wird dafür mit reichlich Nektar belohnt. Der Mensch empfindet den Blütenduft, mit dem Pflanzen ihre Bestäuber anlocken, meist als angenehm, und die Wissenschaft hält für diesen Duft auch einen Namen bereit: Er wird „Synomon“ genannt und bezeichnet ein Gemisch von Botenstoffen, das sowohl dem Sender als auch dem Empfänger nützt.
Schon seit langem ist jedoch bekannt, dass sich einige Blütenpflanzen nicht an die oben erwähnten „sozialen“ Spielregeln halten [1]. Stattdessen nutzen sie verschiedenste Arten von Lockstoffen, um Insekten auszutricksen und so zur Bestäubung zu verführen. Ein solches System steht in der Evolution unter einem äußerst hohen Selektionsdruck, denn das Insekt und die Blüte befinden sich – nach der so genannten Red-Queen-Hypothese – in einem endlosen Wettstreit, in dem die Blüte kontinuierlich täuscht und das Insekt vermeiden sollte, immer wieder getäuscht zu werden. Der Vorteil der Pflanze bei einer solchen Interaktion ist deutlich: Sie wird bestäubt, ohne dafür mit der Produktion von Nektar bezahlen zu müssen. Das Insekt aber ist im Nachteil. Wenn es von der Pflanze an der Nase herumgeführt und als Bestäuber missbraucht wird, verliert es wertvolle Zeit und Energie. Oft hält eine Blüte das Insekt sogar für mehrere Stunden gefangen, um einen wirksamen Pollentransfer zur nächsten Blüte sicherzustellen. Im kurzen Leben vieler Insekten ist ein solcher Zeitverlust sehr kostspielig und sollte möglichst vermieden werden. Daher müssen „betrügerische“ Pflanzen Blüten hervorbringen, die für das Zielinsekt unwiderstehlich sind, denn sonst würde die Selektion Insekten hervorbringen, die gelernt haben, Imitation (z.B. Blütenduft) von Vorlage (z.B. Lockstoff des Weibchens) zu unterscheiden.
Wie sieht ein idealer Köder aus, dem ein Insekt nicht widerstehen kann? Jedes Insekt möchte sich während seiner Lebenszeit so effektiv wie möglich fortpflanzen. Chemische Signalstoffe stellen daher zweckdienliche Mittel dar, die instrumentalisiert werden können. Insekten sind weitestgehend geruchsgesteuert, deshalb ahmen manche Blütenpflanzen Duftsignaturen nach, die bei der Fortpflanzung von Bienen, Fliegen, Käfern und anderen Insekten eine Rolle spielen. Zwei Hauptkategorien dieser molekularen Mimikry, die auf verschiedene Bereiche des tierischen Reproduktionssystems abzielen, können unterschieden werden: Sexuelle Mimikry, bei der die Blüte den Sexuallockstoff des anderen Geschlechts, in der Regel des Insektenweibchens, vortäuscht, und Mimikry der Brutstelle, bei der die Blüte eine perfekte Nahrungsquelle für die aus den abgelegten Eiern schlüpfenden Larven imitiert.
In diesem Artikel werden Beispiele aus den verschiedenen Systemen vorgestellt, bei denen die sensorischen Signale, die bei der Täuschung eine Rolle spielen, kürzlich aufgeklärt werden konnten. Der Schwerpunkt liegt auf Geruchssignalen, aber auch visuelle und thermische Signale wurden analysiert.
Sexuelle Täuschung
Ein Insektenmännchen kann es sich nicht leisten, auch nur eine Gelegenheit zur Paarung zu verpassen, denn es möchte sein Genom ebenso erfolgreich fortpflanzen wie seine Mitbewerber. Ein Insektenleben ist kurz und vor allem – die Gelegenheiten sind selten. Die starke Anziehungskraft des männlichen Insekts hin zur Sexualpartnerin ist deshalb eine perfekte Zielvorgabe für Pflanzen, entsprechende „Bestäubungssysteme“ zu entwickeln. Von den Pflanzen, die eine sexuelle Mimikry entwickelt haben, sind vor allem die Orchideen bekannt (Abb. 1). Das erste System, das sowohl auf chemischer als auch verhaltensbiologischer Ebene untersucht wurde, ist die Wechselwirkung zwischen der Orchideenart Ophrys sphegodes (Spinnenragwurz) und Sandbienen der Gattung Andrena. In verschiedenen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die Orchidee tatsächlich das aus einem Gemisch verschiedener Substanzen bestehende Sexualpheromon eines Bienenweibchens imitiert, und zwar so perfekt, dass das Männchen sogar versucht, mit der Blüte zu kopulieren, und so die Pollenmasse garantiert an seinem Körper kleben bleibt.
Das Pheromongemisch besteht aus etwa zehn verschiedenen Kohlenwasserstoffmolekülen, aber das Bestäubungssystem ist noch viel ausgeklügelter als zunächst angenommen. Eine weibliche Biene paart sich nämlich nur ein einziges Mal mit einem Männchen. Jedes Weibchen besitzt einen individuellen Geruch, der sich von dem der anderen Weibchen minimal, nämlich je nach Mengenverhältnis der flüchtigen Kohlenwasserstoffmoleküle, unterscheidet. Um keine Zeit damit zu vergeuden, ein Weibchen zu umwerben, mit dem es sich bereits gepaart hat, merkt sich das Männchen die Duftsignaturen seiner bereits eroberten Partnerinnen. Würden also alle Blüten der betrügerischen Orchideen gleich riechen, würden die Männchen keine weitere Blüte aufsuchen, weil sie dort ein Weibchen vermuten würden, mit dem sie sich bereits gepaart haben. Die Blüten geben deshalb Duftbouquets ab, die sich voneinander unterscheiden, und zwar in einer Variationsbreite, die den voneinander abweichenden Lockstoffbouquets der Weibchen entspricht. Auf diese Weise wird das Männchen dazu verführt, von Blüte zu Blüte zu fliegen, und erst damit überträgt es den Pollen und sichert die Fortpflanzung und genetische Variabilität der Orchideenart [2-4].
Vorgetäuschte Brutstellen
Sexuelle Mimikry von Pflanzen ist fast immer auf paarungswillige Insektenmännchen ausgerichtet, die sich nur allzu leicht überlisten lassen. Von Pflanzen vorgetäuschte Brutstellen hingegen führen Insektenweibchen in die Irre, die nach einer geeigneten Nahrungsquelle für ihren Nachwuchs suchen. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Arten der Gattung Arum aus der Familie der Aronstabgewächse analysiert, weil man vermutete, dass hier Brutstellen-vortäuschende Pflanzen zu finden sein sollten. Von diesen Pflanzen ist bekannt, dass sie – zumindest für die menschliche Nase – sehr eigenartige Blütendüfte produzieren und außerdem ein breites Spektrum an Bestäubern anlocken.
Ein Aronstabgewächs mit dem volkstümlichen Namen „Totes Pferd“
Die ersten Untersuchungen zur Brutstellen-Mimikry konzentrierten sich auf Pflanzen der Art Helicodiceros muscivorus, im Volksmund auch „Totes Pferd“ (dead horse arum) genannt. Diese auffällige und vor allem übelriechende Pflanze kommt auf kleinen Inseln im Mittelmeerraum vor. Sie ist fast immer in der Nähe größerer Möwenkolonien zu finden und blüht kurz bevor die Möwenjungen schlüpfen. In diesem Zeitraum trifft man interessanterweise auch auf große Populationen sogenannter Fleischfliegen, und tatsächlich konnte nachgewiesen werden, dass die Blüten den Geruch von verrottendem Fleisch imitieren und damit Fleischfliegen als unfreiwillige Bestäuber anlocken.
Elektrophysiologische Experimente zeigten, dass die Antennen der Fliege, also ihre „Nase“, auf den Geruch der Pflanze und den Geruch von fauligem Fleisch identisch reagierten. Bei den aktiven Komponenten der in der Blüte produzierten Duftmischung handelte es sich um drei verschiedene Oligosulfide. Zusätzlich heizt sich die Blüte auf und übersteigt die Umgebungstemperatur um etwa 15 Grad Celsius. Sie ahmt damit die Hitze nach, die in einem faulenden Tierkadaver entsteht. Die Blüte öffnet sich zwei Tage lang, produziert ihren fauligen Geruch und zusätzliche Wärme aber nur am ersten Tag. Diese Tatsache ermöglichte es den Wissenschaftlern, die Attraktivität der Blütensignale genau zu testen. Dazu wurde die Blüte am zweiten Tag – wenn sie normalerweise nicht mehr riecht – zuerst mit einem synthetischen Duft versehen. Es zeigte sich, dass die Fliegen im gleichen Ausmaß wie am ersten Tag angelockt wurden, allerdings krabbelten sie nicht bis in den Kelch der Blüte hinein, wo die Fliegen üblicherweise für einige Zeit gefangen gehalten werden, um die Pollenübertragung sicherzustellen (Abb. 2). Die Täuschung funktionierte jedoch vollständig, wenn dem Kelch künstlich genügend Wärme hinzugefügt wurde: Die Fliegen gingen in die Falle. Dieses Aronstabgewächs bedient sich also einer multisensorischen Täuschung, um Fleischfliegen erfolgreich anzulocken. Neben der Geruchs- und Wärme-Imitation verwendet die Pflanze zusätzliche mechanosensorische und visuelle Signale, um ihre Attraktivität bei den Fliegen noch weiter zu steigern [5, 6].
Die Bestäubungsstrategie von Helicodiceros muscivorus hängt von der perfekten Nachahmung einer unwiderstehlichen Ressource ab, damit Fliegenweibchen das vermeintlich optimale Eiablagesubstrat nicht ignorieren können. Gleichzeitig drängt die Pflanze die Fliegen aus der Perspektive der Evolution kaum dazu, Maßnahmen gegen die Täuschung zu entwickeln, weil sie für ihre betrügerischen Aktionen nur kurze Zeitfenster (wenige Wochen) und sehr begrenzte Lebensräume (kleine Mittelmeerinseln) nutzt.
Aronstabgewächse auf Kreta
Auf der Insel Kreta kommen verschiedene Arten der Gattung Arum vor. In einer Reihe von Feld- sowie Laborexperimenten wurden vier dieser Arten näher untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass zwei Arten, A. cyrenaicum und A. concinnatum, einen strengen Geruch nach Tierkot abgeben und mit Helicodiceros muscivorus (dead horse arum, s.o.) einige Ähnlichkeiten aufweisen: Beide Pflanzenarten besitzen wärmebildende (thermogene) Gewebe und mit ihren sich ähnelnden Duftbouquets locken sie kleine Fliegen an, die sie für einige Zeit gefangen halten. Obwohl sie den gleichen Lebensraum teilen, unterscheiden sich die zwei Arum-Arten in der Blütezeit, weshalb eine gegenseitige Befruchtung ausgeschlossen ist.
Hingegen haben die beiden Arten A. creticum und A. idaeum einen eher traditionellen Bestäubungsmechanismus entwickelt, der auf dem gegenseitigen Nutzen für Pflanze und Bestäuber beruht. Statt eines stinkenden Geruchs geben sie einen, zumindest für uns Menschen, angenehmeren Blütenduft ab, der Bienen und Käfer anlockt. Obwohl die beiden Arum-Arten dieselben Bestäuberarten anlocken, unterscheidet sich der Hauptbestandteil im Duft von A. creticum von dem in A. idaeum, und die Bestäuber können möglicherweise die Düfte der beiden Arten unterscheiden. Ein Vergleich aller wesentlichen Blütenduftkomponenten der vier kretischen Arum-Arten, die mittels Gaschromatografie-Massenspektrometrie identifiziert wurden, ergab Ähnlichkeiten und Unterschiede. Die zwei belohnenden, mutualistischen Arten A. creticum und A. idaeum und die beiden nicht-belohnenden, fliegenfangenden Arten A. cyrenaicum und A. concinnatum bilden jeweils zwei Duftstoffgruppen, wobei sich die jeweiligen Gruppenpaare der belohnenden bzw. nicht-belohnenden Spezies deutlich voneinander unterscheiden [7].
Die Schwarze Calla
In einer der neuesten Arbeiten aus unserer Abteilung wurde eine Population der Schwarzen Calla (Arum palaestinum) im Norden Israels untersucht. In ersten Feldstudien konnte beobachtet werden, dass Blüten dieser Art eine große Anzahl von Taufliegen (Drosophiliden) anlocken (Abb. 3). Eine einzige Blüte konnte innerhalb weniger Stunden bis zu 500 Fliegen ködern. Das Duftbouquet der Blüte wurde daraufhin genauer analysiert. Auf die menschliche Nase wirkt der Duft ähnlich wie der eines süßen Weines. Unter den Duftbestandteilen befanden sich 2,3-Butandionacetat und Acetoinacetat. Diese beiden Komponenten kommen sehr selten in Blütenduftbouquets vor, dagegen treten sie häufig als Produkte alkoholischer Gärung auf. Im weiteren Verlauf der Untersuchungen wurde deutlich, dass die Calla in der Tat einen Gärungsprozess imitiert, indem sie ein Duftbouquet mit sieben typischen Gärungs-Geruchsstoffen produziert. Im Labor wurde die Anziehungskraft verschiedentlich zusammengestellter Duftmischungen getestet: Es zeigte sich, dass eine Mischung aus genau denjenigen Duftkomponenten auf die Fliegen besonders anziehend wirkt, die z.B. dem Duftprofil faulender Bananen entspricht, also einem Substrat, auf das Drosophiliden von Natur aus nahezu versessen sind [8].
Mithilfe des optical imaging wurden die primären Geruchszentren im Gehirn der Drosophiliden betrachtet, und es konnte abgeleitet werden, welche Geruchsrezeptoren in der Fliegenantenne aktiviert werden. Ein Vergleich dieser Rezeptoren innerhalb aller Fruchtfliegenarten, deren Genom vollständig sequenziert wurde (insgesamt 12 Arten), ergab, dass der Blütenduft der Schwarzen Calla drei Hauptgruppen von Rezeptoren aktiviert. Davon ist eine Gruppe in allen zwölf Arten hoch konserviert: Diese Rezeptoren signalisieren die Anwesenheit von gärenden Hefepilzen – also der Grundnahrungsquelle der Fliegen. Die zweite Gruppe signalisiert, dass von Hefe fermentierte Früchte in der Nähe sind; diese Rezeptoren sind somit besonders in Obst-konsumierenden Fliegenarten zu finden. Die dritte Gruppe von Rezeptoren ist weniger konserviert als die anderen beiden und scheint sich an die spezifischen Bedürfnisse obstfressender Art angepasst zu haben. Fazit: Die Blüte der Schwarzen Calla produziert somit den perfekten Lockduft, indem sie eine Reihe verschiedener wichtiger Reizleitungen in das Fliegengehirn kombiniert, die sämtlich der Fliege folgende Botschaft übermitteln: Komm zu mir, hier ist etwas wirklich Leckeres!
Die Analyse des Bestäubungssystems von A. palaestinum ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die Erforschung der Funktionalität von sensorisch basiertem Verhalten. Die Blüte bietet die sensorischen Signale, die benötigt werden, um sie für Fliegen so verführerisch wie möglich zu machen. Diese Signale wiederum sind die Eintrittskarte dafür, das System im Gehirn der Fliegen zu analysieren und bis zu ihrem Verhalten weiter zu verfolgen.
Die nächsten Schritte
Unsere Studien werden derzeit in verschiedene Richtungen weiter verfolgt. In einigen Mittelmeer-Regionen werden Populationen von Arum dioscoridis verglichen. Diese Art befindet sich anscheinend inmitten eines Prozesses voranschreitender Speziation (Artbildung) und divergiert in der Zusammensetzung abgegebener Duftmoleküle, Blütezeit und Morphologie. Interessanterweise scheinen verschiedene Populationen unterschiedlichen Kot nachzuahmen: einige riechen mehr nach dem Kot von Raubtieren, andere nach dem von Pflanzenfressern. In der Türkei wird der Hügel-Aronstab A. rupicola untersucht, der vermutlich einen Mechanismus entwickelt hat, warmblütige Säugetiere nachzuahmen, um blutsaugende Insekten als Bestäuber anzulocken.
Darüber hinaus wurde kürzlich entdeckt, dass eine Orchidee die Alarmpheromone von Blattlauskolonien imitiert, um räuberische Schwebfliegen anzulocken [9]. Zudem werden zurzeit weitere Pflanzenarten gesucht, die Drosophiliden täuschen, denn solche Pflanzen vermitteln ein einzigartiges Wissen darüber, welche Stimuli für diese genetischen und verhaltensbiologischen Modellorganismen wirklich unwiderstehlich sind.
Die Betrachtung der in diesem Artikel geschilderten unterschiedlichen Bestäubungssysteme offenbart die treibenden Kräfte der Evolution und erlaubt damit einen Einblick in ökologische Mechanismen und Wechselwirkungen, die sonst nur schwer bestimmbar gewesen wären.