Wie man eine Nahrung überlebt, die zum Herzstillstand führen kann

Forschungsbericht (importiert) 2022 - Max-Planck-Institut für chemische Ökologie

Autoren
Rowland, Hannah M.
Abteilungen
Max-Planck-Forschungsgruppe „Räuber und giftige Beute“
Zusammenfassung
Monarchfalter, Milchkrautwanzen und Tigernattern haben erstaunliche Gemeinsamkeiten: Die Meister der Chemie enthalten giftige Steroide, die zum Herzstillstand führen können. Außerdem warnen sie Räuber mit ihren grell orangefarbenen Markierungen: "Wenn ihr mich fresst, werdet ihr es bereuen." Es ist kaum vorstellbar, dass Räuber eine so augenscheinlich gefährliche Beute verspeisen. Unsere Forschung zeigt jedoch, dass räuberische Tiere weltweit bemerkenswerte Fähigkeiten entwickelt haben, um diesen Giften zu widerstehen und trotz der lebensgefährlichen Nahrung zu überleben.

Einleitung

Räuber-Beute-Beziehungen gehören zu den wichtigsten und am besten untersuchten ökologischen Interaktionen. Beutetiere meiden Lebensräume, in denen Räuber häufig anzutreffen sind. Sie bleiben still oder entwickeln eine Tarnung, um nicht wahrgenommen zu werden. Sie ahmen das Aussehen von Steinen, Zweigen oder sogar Vogelkot nach. Wenn diese Abwehrmechanismen versagen und Räuber angreifen, können Beutetiere physische Abwehrmechanismen wie Stacheln und Reizhaare oder schädliche chemische Substanzen einsetzen.

Zu den Tieren mit chemischer Abwehr gehören Pfeilgiftfrösche, Marienkäfer, Bärenspinner und Korallenottern. Werden sie angegriffen, können ihre Gifte Schwellungen, Lähmungen und manchmal sogar den Tod verursachen. Weil es von Vorteil ist, gar nicht erst angegriffen zu werden, haben Beutetiere, die sich chemisch verteidigen, farbenfrohe Muster entwickelt (Abb. 1). Räuber lernen schnell, auffällige Beutetiere zu meiden. Das leuchtende Orange eines Monarchfalters bedeutet "friss mich nicht", und Räuber beherzigen meist diese Warnung, die man Aposematismus nennt. Wenn sie es nicht tun, bereuen sie es oft.

Im Wettrüsten zwischen Räubern und Beute haben Räuber allerdings auch Strategien entwickelt, die Abwehr ihrer Beute zu überwinden. Die Untersuchung der Rolle von Giften bei der Interaktion zwischen Räubern und Beute zeigt, wie sich neue Anpassungen auf beiden Seiten herausbilden.

Herzgifte, abgeschwächte Warnsignale und erbrechende Vögel

Monarchfalter und Milchkrautwanzen (Oncopeltus fasciatus) enthalten Cardenolide, eine Art von Herzglykosiden, die sie aufnehmen, wenn sie an Seidenpflanzen (Asclepias) fressen, die diese Chemikalien enthalten. Die Pflanzen haben die Cardenolide wiederum als eigene Abwehr gegen Insekten entwickelt, die an ihnen fressen. Cardenolide sind giftig, weil sie sich an ein wichtiges Protein binden, das in allen tierischen Zellen vorkommt: die Natriumpumpe. Tiere brauchen die Natriumpumpe, damit sich Herzmuskelzellen zusammenziehen und Nervenzellen feuern können. Wenn Cardenolide die Arbeit der Natriumpumpe unterbrechen, kommt es zu unregelmäßigem Herzschlag, Schwäche oder gar zum Tod.

Insekten, die sich von Seidenpflanzen oder anderen Cardenolid-produzierenden Pflanzen ernähren, weisen Mutationen in einem oder mehreren Genen für die Bildung der Natriumpumpen auf. Einige Mutationen führen zum Austausch einer der Aminosäuren, aus denen die Pumpe aufgebaut ist. Diese Veränderungen erschweren es Cardenoliden, sich an die Pumpe zu binden. Wie wir zeigen konnten, sind aus diesem Grund Monarchfalter und Bodenwanzen immun gegen die zum Herzstillstand führende Wirkung. Cardenolide sind dennoch kein kostenloses Mittagessen: Sie verbrauchen Antioxidantien, was zu einer Abschwächung der Warnfarben der Insekten führt [1].

Wenn Raubvögel oder Säugetiere eine mit Cardenoliden verteidigte Beute angreifen, wird ihnen schlecht: Sie erbrechen. Daher lernen Räuber, die auffälligen Farben von Monarchfaltern und Milchkrautwanzen mit Gefahr zu assoziieren, und sie bei künftigen Begegnungen zu meiden. So konnten wir beobachten, dass Vögel in freier Wildbahn voneinander lernen, giftige Beutetiere nicht zu fressen. Wenn sie sehen, dass sich andere Vögel vor einer Beute ekeln, meiden sie diese Beute zukünftig ebenfalls [2].

Widerstand ist nicht zwecklos

Nicht alle Räuber achten auf Warnfarben oder leiden unter den Folgen des Verzehrs giftiger Beute [3]. Über dreißig Wirbeltierarten fressen Monarchfalter. Schwärme von Raubvögeln, den Schwarzkopf-Kernknackern (Pheucticus melanocephulus), töten täglich im Schnitt 15000 Monarchfalter in den Überwinterungsgebieten der Schmetterlinge in Mexiko. Man geht davon aus, dass sich die Cardenolid-Resistenz der Raubvögel bei ihren Vorfahren zu einem noch unbestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit entwickelt hat. Wir wollten herausfinden, ob dafür ebenfalls eine Mutation verantwortlich ist.

Dafür bestimmten wir zunächst die Natriumpumpen-Gensequenzen einer Vielzahl unterschiedlichster Vögel. Inzwischen kennen wir die Natriumpumpen-Gene von 360 Vogelarten sowie die Bandbreite der Mutationen. Wir fanden zum Beispiel heraus, dass Gelbkehl-Flughühner (Pterocles gutturalis) eine zusätzliche Aminosäure in ihren Pumpen entwickelt haben, die es nur bei dieser Art gibt.  Der Schwarzkopf-Kernknacker hat mehrere Mutationen im Gen. Indem wir Natriumpumpen so verändern, dass eine zusätzliche Aminosäure hinzugefügt oder eine oder zwei Aminosäuren ersetzt werden, können wir Natriumpumpen-Proteine mit Hilfe von Insektenzellen herstellen und die Auswirkungen der Aminosäuren auf die Cardenolid-Resistenz testen.

Bei Gelbkehl-Flughühnern ist die Resistenz durch das Hinzufügen einer Aminosäure um das Sechsfache erhöht. Der Austausch einer Animosäure, von der bekannt ist, dass sie bei Nagetieren eine Resistenz hervorruft, erhöht beim Gelbkehl-Flughuhn die Resistenz um das 11-fache. Doch paradoxerweise führt die Kombination beider Maßnahmen zu einer sechsfachen Abnahme der Resistenz [4]. Daher möchten wir herauszufinden, warum die Kombination bei diesen Vögeln einen negativen Effekt hat, bei anderen aber die Resistenz verbessert. Außerdem möchten wir der Entstehung dieser Mutationen auf die Spur kommen, um die Ursprünge der Resistenz bei Vögeln und Schlangen zu verstehen.

Die Chemie von Leben und Tod

Herzglykoside werden zur Behandlung einer Herzinsuffizienz eingesetzt. Sie haben starke krebshemmende Eigenschaften. Die erste Generation von Krebsmedikamenten auf der Basis von Herzglykosiden befindet sich derzeit in der klinischen Prüfung. Allerdings haben wirksame Herzglykosid-Arzneimittel eine geringe therapeutische Reichweite und zahlreiche Nebenwirkungen. Unsere Forschung zur Anpassung von Räubern an toxische Mengen von Herzglykosiden in ihrer Beute kann dazu beitragen, die Wechselwirkungen zwischen den Verbindungen, den Natriumpumpen und den verschiedenen Systemen des Körpers aufzudecken und die negativen Auswirkungen von Herzglykosiden auszugleichen.

Literaturhinweise

Blount, J. D.; Rowland, H. M.; Mitchell, C.; Speed, M. P.; Ruxton, G. D.; Endler, J. A.; Brower, L. P.
The price of defence: toxins, visual signals and oxidative state in an aposematic butterfly
Proceedings of the Royal Society B – Biological Sciences 290, 2022-2068 (2023)
Hämäläinen, L.; Hoppitt, W.; Rowland, H. M.; Mappes, J.; Fulford, A. J.; Sosa, S.; Thorogood, R.
Social transmission in the wild can reduce predation pressure on novel prey signals
Nature Communications 12, 1-11 (2021)
Mohammadi, S.; Yang, L.; Bulbert, M.; Rowland, H. M.
Defence mitigation by predators of chemically defended prey integrated over the predation sequence and across biological levels with a focus on cardiotonic steroids
Royal Society Open Science 9, 220363 (2022)
Mohammadi, S.; Özdemir, H. I.; Ozbek, P.; Sumbul, F.; Stiller, J.; Deng, Y.; Crawford, A. J.;  Rowland, H. M.; Storz, J. F.; Andolfatto, P.; Dobler, S.
Epistatic effects between amino acid insertions and substitutions mediate toxin-resistance of vertebrate Na+, K+-ATPases
Molecular Biology and Evolution, msac258 (2022)
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