Fall gelöst: Der Biosynthese von Strychnin auf die Spur gekommen
Forschende aus Jena zeigen, wie die Gewöhnliche Brechnuss Strychnin bildet
Einem Forschungsteam am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena ist es gelungen, den kompletten Biosyntheseweg für die Bildung von Strychnin in der Pflanzenart Strychnos nux-vomica (Brechnussbaum) nachzuvollziehen. Die Forschenden identifizierten alle an der Biosynthese von Strychnin und weiteren Stoffwechselprodukten beteiligten Gene und exprimierten sie in der Modellpflanze Nicotiana benthamiana. Damit konnten sie zeigen, dass diese äußerst komplexen und pharmakologisch wichtigen Moleküle mittels „Metabolic Engineering“-Methoden hergestellt werden können (Nature, doi: 10.1038/s41586-022-04950-4).
Strychnin kennen viele von uns aus Kriminalberichten, Romanen oder Filmen. Agatha Christie ließ mehrere ihrer Opfer an einer Strychninvergiftung sterben. Den vermutlich bekanntesten fiktiven Mordfall, bei dem das als Rattengift verwendete hochgiftige Alkaloid zum Einsatz kam, beschrieb sie in ihrem ersten Roman „Das fehlende Glied in der Kette“ (The Mysterious Affair at Styles). Diesen letzten Hinweis auf die Lösung des Falls fand die berühmte Detektivfigur Hercule Poirot in seinem ersten literarischen Auftritt. Auch in der Wissenschaft ist bisweilen Spürsinn und Detektivarbeit gefragt. Die Forschenden um Benke Hong und Sarah O’Connor von der Abteilung Naturstoffbiosynthese mussten dabei nicht nur ein fehlendes Glied finden, sondern die ganze Kette der biosynthetischen Ereignisse aufklären, die im Brechnussbaum (Strychnos nux-vomica) zur Bildung von Strychnin führen. Um in der Sprache der Kriminalliteratur zu bleiben, könnte man sagen: Sie haben den Fall gelöst!
Der Chemiker und Nobelpreisträger Robert Robinson, der in den 1940er Jahren als einer der ersten die Struktur von Strychnin aufklärte, bezeichnete dieses Monoterpen-Indol-Alkaloid einst als die für ihre molekulare Größe komplexeste chemische Substanz. Viele Chemikerinnen und Chemiker waren von der Architektur des Strychnin-Moleküls begeistert und entwickelten Wege zur Herstellung des Moleküls durch chemische Synthese. Erstaunlicherweise war es bislang aber nicht gelungen zu entschlüsseln, wie Pflanzen diesen Naturstoff herstellen.
Dieser Mammutaufgabe hat sich jetzt das Team um Benke Hong gestellt: „Unsere Schlüsselfrage war, wie wir die Gene finden können, die für die Biosynthese von Strychnin in der Brechnuss verantwortlich sind. In einem ersten Schritt haben wir die Expression der Gene (Transkriptom) von zwei Arten der gleichen Gattung (Strychnos) verglichen, von denen aber nur der Brechnussbaum Strychnin produziert. Wir wählten auf dieser Grundlage Kandidaten-Gene für jeden Schritt auf der Grundlage der vorgeschlagenen chemischen Umwandlung aus, von der wir nicht wussten, ob sie korrekt war oder nicht,“ erläutert Benke Hong die Herangehensweise der Forschenden.
Die vorgelagerten Gene der Strychnin-Biosynthese bis zur Bildung eines wichtigen Zwischenprodukts (Geissoschizin) sind in der Heilpflanze Catharanthus roseus (Madagaskar-Immergrün), die in der Abteilung von Sarah O’Connor ebenfalls erforscht wird, vollständig aufgeklärt, und die homologen Gene konnten im Brechnussbaum identifiziert werden.
Für die weitere Lösung der Aufgabe war eine detektivische Kombinationsgabe erforderlich, um molekulare und genetische „Indizien“ miteinander zu verknüpfen, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst „chemische Logik“ nennen. „Man könnte sagen, dass die Chemie die Entdeckung der Gene in unserer Studie geleitet hat. Auf der Grundlage der chemischen Strukturen und Mechanismen ergab sich für jeden Schritt im Stoffwechselweg ein Vorschlag für die chemische Umwandlung. Unsere Spekulationen über die biosynthetischen Enzymfamilien mit katalytischen Funktionen basierten wiederum auf der chemischen Reaktion der einzelnen Schritte,“ beschreibt Sarah O’Connor, die Leiterin der Abteilung Naturstoffbiosynthese, den Forschungsansatz.
Als Nachweis, dass die identifizierten Gene für die vorgeschlagenen Biosyntheschritte verantwortlich sind, veränderten die Forschenden Tabakpflanzen (Nicotiana benthamiana) so, dass sie vorübergehend die Enzyme produzierten. Unter Zugabe der entsprechenden Ausgangsstoffe untersuchten sie dann, ob die transformierte Tabakpflanze das angenommene Produkt bildet. Diese Methode erlaubte es, in hohem Durchsatz mehrere Gene gleichzeitig zu testen, was die Zeit zur Lösung des Rätsels deutlich verkürzte.
Für den letzten Schritt der Strychnin-Biosynthese konnten die Forschenden allerdings kein entsprechendes Enzym finden, das die Umwandlung von Prestrychnin in Strychnin katalysiert. Stattdessen stellten sie fest, dass diese Umwandlung spontan und ohne Enzym erfolgt. Wie so oft in der Detektivarbeit und in der Wissenschaft kam der Zufall zu Hilfe: "Die spontane Umwandlung von Prestrychnin in Strychnin ist eine zufällige Entdeckung. Sie erfordert mehrere Zwischenschritte, und wir dachten zunächst, dass dieser Prozess von einem oder mehreren Enzymen katalysiert werden muss. In der Tat haben wir viele Enzyme untersucht, aber keines von ihnen war reaktiv. Überraschenderweise stellte ich eines Tages fest, dass eine Prestrychnin-Probe, die bei Raumtemperatur auf dem Labortisch gelagert wurde, sich im Laufe der Zeit langsam in Strychnin umgewandelt hatte", sagt Benke Hong. Nachdem der letzte Teil des Puzzles gefunden war, konnten das Forschungsteam den kompletten Biosyntheseweg von Strychnin sowie der verwandten Moleküle Brucin und Diabolin aufklären. Während Brucin ebenfalls von der Brechnuss produziert wird, wird Diabolin von einer verwandten Art der Gattung Strychnos gebildet, die weder Strychnin noch Brucin produziert. Bemerkenswert ist auch, dass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausfanden, dass nur eine einzige Aminosäure-Änderung in einem der Biosynthese-Enzyme für die unterschiedliche Alkaloid-Anreicherung in der Brechnuss und anderen Strychnos-Arten verantwortlich ist.
Die Aufklärung der Biosynthese von pflanzlichen Stoffwechselprodukten und die biotechnologische Nutzung der genetischen Grundlagen für die Bildung von medizinisch bedeutsamen pflanzlichen Wirkstoffen in Modellpflanzen sind vielversprechend. Die aktuelle Studie eröffnet neue Möglichkeiten für die Produktion von bislang unbekannten wirksamen Substanzen mit Hilfe von „Metabolic Engineering“-Ansätzen.